Als im Februar 2022 Russland die Ukraine militärisch angriff, war meine erste Reaktion darauf, innerlich, die Ukraine sollte darauf nicht mit Waffen antworten. Die Reaktion der Mehrheit in unserem Land, auch in meinem Bekannten und Freundeskreis war eine andere. Die Ukraine habe das Recht sich zu verteidigen und Waffenlieferungen sind dafür absolut notwendig und richtig. Eine andere Möglichkeit, als mit Waffen auf einen bewaffneten Angriff zu antworten gäbe es nicht.
Ein regelrechter Ukraine Hype begann um mich herum. Auf der ersten Demo auf der ich war gegen den Krieg, fühlte ich mich sehr unwohl und nicht dazu gehörig. Die vielen ukrainischen Nationalflaggen, das Singen der ukrainischen Nationalhymne, deren Text alle um mich herum schon zu kennen schienen, die Forderungen nach Waffenlieferungen mit einem unglaublichen moralischen Druck, der Beifall den es dafür gab, all dem konnte ich nicht folgen und mein Gefühl sagte mir etwas anderes. Ich konnte mit dem heldenhaften Kampf der Ukraine gar nichts anfangen. Ich war und bin für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und von Deserteuren beider Kriegsparteien und Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen.
Ich war so schockiert darüber was in unserem Land vorging, dass viele, sehr viele plötzlich für Waffenlieferungen in Kriegsgebiete waren. Und für Aufrüstung unseres Landes gegen die russische Gefahr. Diese Schnelligkeit mit der die Aufrüstung umgesetzt wurde und die unablässigen Forderungen nach mehr Waffen für die Ukraine, die Umwertung aller Werte, insbesondere von den ehemals friedensbewegten Grünen, ich konnte es begreifen. Vor kurzem hatten die noch vertreten, keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern und jetzt konnte es gar nicht schnell genug gehen. Gewaltlosigkeit und Pazifismus, das waren bis vor kurzem die Werte. Jetzt war alles anders. Der Kanzler wurde angegriffen, weil er nicht blindlings und unverzüglich tat, was Selensky verlangte. Ein unglaublicher moralischer Druck, keine Diskussion, keine Argumentation, keine Alternative und jede*r die anderer Meinung ist, wurde als Handlanger von Putin diffamiert. Alle wussten sehr schnell Bescheid, was gut und richtig ist.
Auch die unglaubliche Verpöhnung und Ablehnung alles Russischen, ob das Wissenschaftler*innen, Künstler*innen oder einfach nur Städtepartnerschaften waren. Eine Nationalisierungswelle für die Ukraine und gegen Russland ergriff unser Land und eine Aufrüstungswelle , die ich nicht für möglich gehalten hätte.
Der Bürgerkrieg in der Ostukraine, der schon seit 2015 andauerte, wurde einfach ausgeblendet und die Zeitenwende ausgerufen, die durch Russlands Krieg im Februar 22 ausgelöst worden sein soll. Und diese Zeitenwende wiederum galt plötzlich als Rechtfertigung für ein ungeheures Aufrüstungsprogramm zu unserer Selbstverteidigung und zur Verteidigung "unserer" Werte, diesmal nicht am Hindukusch, sondern im Osten der Ukraine.
In meinem Umfeld gab und gibt es nur wenige Menschen, die die Forderung und Förderung von Friedensverhandlungen für ebenso wichtig, wie Waffenlieferungen halten. Und zwei, drei Menschen, die auch den Verteidigungskrieg ablehnen, denn auch die Verteidigung mit Waffen kostet Menschenleben. Ein Stadtverordneter von Darmstadt hatte den Mut diese Position im Stadtparlament öffentlich auszusprechen. Die Ukraine solle die Waffen ehrenvoll niederlegen und sich ergeben. Er löste damit einen Skandal aus, wurde beschimpft und von seiner Fraktion ausgeschlossen.
Ich war meist nicht so mutig und hielt mich in Diskussionen an den, nach meiner Meinung notwendigen Friedensverhandlungen fest. Doch das entsprach nicht ganz meiner Meinung. Ich lehne jede Gewalt, jeden Einsatz von Waffengewalt ab, sei es zum Angriff oder zur Verteidigung. Auch der Einsatz von Verteidigungswaffen kostet Menschenleben. Ich unterscheide auch nicht prinzipiell zwischen Soldatenmenschenleben oder Zivilmenschenleben.
Ich möchte nicht von jungen Menschen in der Bundeswehr verteidigt werden, die ihr Leben für mich opfern oder auch nur aufs Spiel setzen. Auf keinen Fall. Dann lebe ich lieber in Knechtschaft oder in widrigen Umständen. Kein Diktator lebt ewig.
Bei meiner ganzen Argumentation fehlte mir die ganze Zeit jedoch: Was machte denn den Unterschied zwischen mir und denjenigen aus, die auch gegen eine weitere Befeuerung des Krieges durch Waffenlieferungen ohne Bedingungen und stattdessen auf Verhandlungen setzen?
Ein Artikel im "Freitag", einer Wochenzeitung, über zivile oder soziale Verteidigung. brachte mir das entscheidende Glied der Erkenntnis, das mir noch fehlte: Der zentrale Wert
einer Wehrhaftigkeit ohne Waffen ist die Unversehrtheit menschlichen Lebens und nicht die Unversehrtheit staatlicher Territorien.
Im Krieg in der Ukraine, wo es um Angriff und Gegenangriff, um Eroberung und Rückeroberung von Territorien geht, hat gewaltfreier Widerstand keinen Platz (mehr) und bleibt für diesen Krieg utopisch.
Naiv und ohne Zukunft bleibt jedoch im geopolitischen Machtkampf die Vorstellung, diese Welt lasse sich nach der Logik der Landkarten und Feldherrenhügel zu einem besseren Ort für die Menschen machen.
Mit den Konzepten der sozialen Verteidigung ohne Waffen beschäftigt sich der Bund für Soziale Verteidigung:
www.soziale-verteidigung.de
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