· 

Wahrsprechen

Den Begriff "Wahrsprechen" habe ich bei Carolin Emcke in ihrem Buch "Gegen den Hass" gelesen und dieser Begriff hat mich sofort angesprochen und etwas in mir berührt. Carolin Emcke führt zum Wahrsprechen aus, dass dies bedeutet, dass man die Wahrheit nicht nur benennt, sondern die Wahrheit auch tatsächlich meint. Mit Wahrheit ist hier nicht die absolute Wahrheit gemeint, die es eh nicht gibt,  sondern meine Wahrheit, meine eigene Meinung, meine Ideen. Carolin Emcke ruft dazu auf, seine Standpunkte offen zu vertreten, auch wenn man dadurch Nachteile zu erwarten hat oder wenn man sich gegen die Mehrheitsmeinung stellt und dies unbequem ist. 

Als ich die Abschiedsrede von Oscar Lafontaine im Saarländischen Landtag hörte, konnte ich fühlen und es ging wohl allen anwesenden Abgeordneten unabhängig von der Parteizugehörigkeit so, denn er bekam stehende Ovationen von allen, dass dieser Mann wahrspricht, dass er von dem was er sagt, zutiefst überzeugt ist, dass er keinerlei rhetorische Elemente benutzt, dass er nicht manipulativ spricht und dass er keine Generalisierungen verwendet. Er spricht von sich ganz persönlich. Es ging um den Krieg Russlands gegen die Ukraine und auch um alle Kriege. Lafontaine sagte, wenn wir nicht aufhören mit zweierlei Maß zu messen, wenn nicht alle Kriege gleichermaßen bewertet und bekämpft werden, wird es niemals Frieden auf der Welt geben. Auch zum Pazifismus sprach Lafontaine respektvoll und gab aber auch seine eigene Position dazu wieder. 

Ich habe diese Rede von Lafontaine als Beispiel angeführt, was der Begriff "Wahrsprechen" bedeuten kann, was damit gemeint ist. Als Negativbeispiel könnte ich Boris Johnson nennen, der so offensichtlich lügt und in seiner Rede eine Rechtfertigung  vertritt, von dem jeder und auch er selbst weiß, dass es gelogen ist. 

Negativbeispiele sind aber auch, wenn verschleiernde Begriffe benutzt werden oder wenn nur ein Teil ausgesprochen wird. Als aktuelles Beispiel möchte ich hier benennen, wenn ein gigantisches Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung nicht als solches benannt wird, sondern als "Sondervermögen" für die Bundeswehr bezeichnet wird. Und wenn nicht dazu gesagt wird, dass das auch bedeutet, dass für zivile Friedensprojekte, Entwicklungshilfe, Bildung, Soziale Hilfen, Pflege und Klimaschutz weniger Geld da sein wird, spricht nicht wahr.

Wahrsprechen bedeutet aber auch, nicht zu schweigen, wenn herabwürdigend oder rassistisch oder sexistisch gesprochen oder Witze gerissen werden. Manchmal bin ich zu bequem oder zu unaufmerksam oder zu feige, um etwas dagegen zu sagen. Ich nehme mir vor, (nicht immer, das wird mir nicht gelingen) aber immer öfter meine Meinung auszusprechen und es nicht einfach stehen zu lassen, wenn mir was auffällt. 

Wahrsprechen ist auch angesagt, wenn man selbst beleidigt oder verletzt wird. Auch hier gehört es zur Wahrhaftigkeit, zum Wahrsprechen, wenn man nicht dazu schweigt und es einfach schluckt.  

Das Foucaultsche Konzept vom Wahrsprechen, von der Parrhesia, geht viel weiter und hat viele Dimensionen. Ich habe mich damit nicht beschäftigt. Ich habe mir nur meine eigenen Gedanken zu dem was Carolin Emcke darüber schreibt, gemacht.

Ich freue mich auf Eure Gedanken zum "Wahrsprechen".

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Frieß (Samstag, 18 Juni 2022 11:07)

    Schwieriger Beitrag. Muß noch nachdenken.