Noch nie hat die Menschheit über soviel Wissen verfügt, wie heute. Und jeden Tag, jede Sekunde kommt neues Wissen hinzu. Und diese große Menge an Wissen ist für sehr viele Menschen verfügbar (via Internet). Großartige Projekte, wie Wikipedia, sammeln dieses ungeheuer große Wissen und stellen es für die Allgemeinheit, für alle Menschen, zur Verfügung.
Nicht mehr, wie noch in meiner Kindheit, als das gesammelte Wissen aus einem einzigen dicken Buch, Lexikon, im Wohnzimmerschrank bestand. Oder gar im Mittelalter, als die Menschen lediglich wussten, was in ihrer unmittelbaren, jeweiligen Umgebung geschah und beobachtet werden konnte. Alles was sie sich nicht erklären konnten, was sie nicht wussten, wurde ihnen von Oben, von den kirchlichen und weltlichen Herrschern "erklärt" und "erzählt". Und die Menschen glaubten, weil sie nichts anderes wussten.
Das Wissen wurde in Klöstern gesammelt und aufgeschrieben und stand ausschließlich den Herrschenden und ihren Gelehrten zur Verfügung.
Dann, mit der Entstehung der modernen Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert explodiert das Wissen regelrecht und erweitert sich mit immer größerer Geschwindigkeit bis zu der ungeheuren Fülle der Gegenwart. Und dieses gesamte Wissen steht zunehmend der gesamten Menschheit zur Verfügung.
Ist denn durch die Menge an Wissen, das den Menschen zur Verfügung steht, der Glaube weniger geworden?
Zunächst einmal schon: Die neuen Erkenntnisse, Erforschungen, Ergebnisse der Wissenschaft schränkten den Glaubensanteil ein und drängten ihn zurück auf die Bereiche, die weiterhin unerforscht und unerklärlich blieben oder die neu durch die wissenschaftliche Forschung zu Tage traten.
Jetzt aber ist die Menge an Wissen so ungeheuer groß, vermehrt sich in so großer Geschwindigkeit und steht so vielen Menschen zur Verfügung, dass sie das nicht mehr in der gleichen Geschwindigkeit in ihr jeweiliges Weltbild, Glaubenssystem, Wertesystem einordnen, einbauen und unterbringen können.
Sie suchen sich einen kleinen (Teil) Wissensbereich aus und zwar den, der sich am widerspruchsärmsten in ihr schon vorhandenes Weltbild, Gesamtkonzept und Wertesystem vereinbaren und einbauen lässt. Und dieser Teilaspekt, dieser Teil des Wissens, wird dann total auf alle anderen Wissens- und Lebensbereiche angewandt und ausgeweitet.
Und dann wird Wissen wieder zu Glauben. Glaub ich jedenfalls.
Sollen wir nach Wissen streben und den Glauben zurückdrängen?
Wir sollten auf jeden Fall unser neu erworbenes Wissen nicht glauben, sondern es stetig hinterfragen und versuchen es zu vermehren. Offen und neugierig.
"Wissen beginnt mit Wahrnehmung" sagt Ernst Peter Fischer und Aristoteles: "Die Menschen streben ihrer Natur gemäß nach Wissen, weil sie Freude an der Wahrnehmung haben". Ich finde das kann doch eine gute Leitschnur sein, mit der wir an die Wunderwelt des Wissens herangehen können.
Josef M. Gassner, ein Wissenschaftler, sagt: "Machen Sie nie eine Theorie zu Ihrer Theorie!" Er meint damit Theorien in der Wissenschaft, aber ich denke, das kann man/frau auch auf andere Bereiche anwenden. Warum soll man eine Theorie nicht zu seiner eigenen Theorie machen? Weil man/frau sie dann nicht mehr hinterfragen kann, weil, wenn die Theorie angegriffen wird, dies ein Angriff auf die eigene Person ist, die eigene Persönlichkeit infrage gestellt wird. Und das verträgt der Mensch nicht gut.
Also, was lernen wir daraus: Immer schön neugierig bleiben und (versuchen) offen zu sein für Neues.
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Frieß (Samstag, 06 Juni 2020 10:39)
Das Faust-Lamento: "Habe nun ach..." gilt leider uneingeschränkt weiter.