· 

Armut

Vor kurzem war ich bei Fielmann, um mir eine alte Gleitsichtbrille in eine Lesebrille anpassen zu lassen. Die Optikerin schaute nur kurz auf das alte Brillengestell und erklärte mir recht schnell, dass sich das nicht lohnt und es kostenlose neue Brillengestelle gibt. In dem alten Brillengestell seien die Weichmacher im Kunststoff schon teilweise entwichen und das Gestell könnte deshalb beim Entfernen der alten Gläser zerbrechen. Gläser in ein altes Gestell machen zu lassen koste 20 € und das wäre dann umsonst gewesen und mein Risiko. Außerdem gäbe es gerade ein besonders günstiges Angebot: Eine Brille mit Gläsern für 18,90€. Nachdem sie mir dann 3 Brillengestelle aus diesem Tarif gezeigt hatte, folgten schnell weitere, die nicht mehr zu diesem sehr günstigen Tarif waren. Nachdem ich 2 Gestelle in die Auswahl genommen hatte, ging es zunächst zur Augenvermessung in ein Kämmerchen. Als wir wieder am Kundentisch saßen , die Optikerin mir gegenüber, begann sie ein Formular auszufüllen, wo plötzlich Preiskategorien erschienen, über die wir vorher nicht gesprochen hatten. Auf meinen Einwand, dass ich mich noch nicht entschieden hätte, erklärte die Optikerin mir, dass das nur verschiedene Angebote seien, unterschiedliche Qualitäten von Brillengläsern. Sehr empfehlen würde sie mir, entspiegelte Gläser zu nehmen (56 € ), da graue Star Operierte sehr empfindlich für Lichtreflexe seien. Dann gäbe es noch besondere hochwertige Gläser für 258 €, die sie mir an einem Modell zeigte, wo ich aber auf die Schnelle keinen Unterschied feststellen konnte. 

So nun hatte ich das Dilemma! Ich fühlte mich sehr unwohl. Ich wollte doch nur eine ganz einfache Lesebrille und das aus meiner alten Brille aus Gründen der Ressourcenschonung und weil das alte Brillengestell mir gefiel. Und jetzt sollte ich plötzlich Geld ausgeben für etwas völlig anderes was ich nicht haben wollte.

Eine neue sehr preiswerte Lesebrille ist gerade noch als Alternative akzeptabel. Aber alles darüber hätte ich mich über mich selbst geärgert, dass ich "schwach" geworden bin und mich habe überrumpeln lassen und mit etwas vollkommen anderem aus dem Laden heraus komme, als ich mir vorgestellt hatte. 

Also musste ich die Angebote, die mehr kosteten, ablehnen, was mir sehr unangenehm war. Jetzt hatte sich die Optikerin soviel Mühe mit mir gemacht, meine Augen vermessen, Brillengestelle präsentiert und Gläserangebote errechnet und ich sollte nun nein sagen und ihre Mühe zurückweisen. Ich könnte mir sicher eine teurere Brille leisten, aber ich wollte es nicht. 

Ich habe dann den Laden sehr schnell verlassen, nachdem die Optikerin den Abholschein für das 18,90 Modell ausgehändigt hatte. Noch stundenlang hatte ich irgendwie ein mulmiges Gefühl, wenn ich an die Situation dachte. Ich stellte mir vor, dass es armen Menschen oft so ergehen muss, dass sie voller Scham einen Laden verlassen und um sich das zu ersparen, vielleicht gar nicht in ein Fachgeschäft reingehen. Und ich konnte mir vorstellen, wie es dazu kommt, dass man etwas kauft, was man sich gar nicht leisten kann. 

Armut ist ein Tabu. Und es ist mit sehr viel Scham behaftet. Die Armut fängt da schon an, wo man sich nicht leisten kann, was für viele eine Selbstverständlichkeit ist. 

Ich habe auch ein oder zwei arme Menschen im Bekanntenkreis. Über ihr geringes Einkommen und dass sie eventuell Geld vom Sozialamt beziehen müssen, wird nicht gesprochen. Ich nehme mir vor, das Tabu zu brechen und es anzusprechen, wenn ich die Personen das nächste mal treffe und sich eine günstige Gelegenheit bietet. Armut sollte kein Tabu sein. Armut ist an sich schon Belastung für die betroffenen Menschen und sollte auf keinen Fall zusätzlich mit Scham behaftet sein.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0