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Lebenshilfe

Kunst als Lebenshilfe. Geht das?  Das habe ich vor kurzem in der Völklinger Hütte so erlebt.

Die Völklinger Hütte ist ein ehemaliges Stahlwerk, was als Weltkulturerbe für Besucher*innen zugänglich ist. Schon der Besuch des Industriegeländes, der riesigen Anlagen,  ist sehr beeindruckend und auf jeden Fall eine Reise wert.

Die gegenwärtige Ausstellung des Künstlers Julian Rosefeldt in der riesigen ehemaligen Gebläsehalle, ist zusätzlich eine Wucht. Die Ausstellung besteht aus insgesamt 7 Filmen, die auf riesigen Leinwänden in der dunklen Halle gezeigt werden.

Euphoria ist mit fast 2 Stunden, die längste der Video Installationen. Der Film, oder sollte man besser Video Oper sagen,  ist mit eigens für diesen Film komponierter Musik, aber auch mit Sprache. Das Thema ist der Kapitalismus. Die verschiedenen Facetten und Stufen des Kapitalismus. Die Auswirkungen. Die sichtbaren und die meist unsichtbaren.

Ich war so verloren, alleine, in der großen dunklen Gebläsehalle, getrennt von allen. Durch Kopfhörer getrennt, jeder in seiner Welt. Jeder vor "seinem" Film. So abgrundtief getrennt.

Doch dann kam ich zu der Installation Euphoria, mit der Musik, dem Jugendchor, den Musiker*innen um mich herum. Vor mir die riesige Leinwand mit den wunderbaren Menschen, so unterschiedlich und doch alle gleich.

Ohne Kopfhörer. Eine tiefe Verbundenheit mit all diesen Menschen, auch mit den Zuschauer*innen auf den Sitzen rings um mich herum.

Die Installation ist wie eine ungeheuer dynamische Oper, aber auch mit langen sehr ruhigen Einstellungen.

Die Szene mit der Skateboard- Fahrer*in. Skatet durch die Straßen einer großen Stadt. New York? Die Fahrt beginnt im Taghellen und endet im Dunkeln in den beleuchteten Straßen. Die Skater*in gleitet, fliegt, schwimmt schwerelos durch die Straßen. Durch den Verkehr, über sich eine Bahntrasse, neben, vor und hinter sich den Autoverkehr. Die Skateboarder*in ruht in sich, ist vollkommen konzentriert und präsent. Und trotzdem vollkommen entspannt. Sie genießt den Fahrtwind, die Geschwindigkeit, die Bilder die vorbeifliegen, die Selbstwirksamkeit. Sie ist ganz bei sich und gleichzeitig verbunden mit allen Menschen um sich herum. Das Licht verändert sich von hellem Tag, über die eine milde Abendstimmung, bis in die Nachtbeleuchtung in der Großstadt.

Der Verkehr, die Autos, die Busse, sind nicht ihr Feind. Sie schwimmt geradezu darin. Furchtlos, gekonnt, konzentriert.

Ich versuche mich in diesen Aggregatszustand einzuklinken. Fühlt sich so ähnlich an, wie der Dokumenta Modus. Nur ganz anders...

Da zu liegen, um mich herum der Jugendchor, vor mir die Leinwand mit der Skateboarder*in. Aufgehoben. Einfach Da Sein.

Eine andere wundervolle Szene aus dem Film: Ein Taxifahrer mit Pelzmütze,  der in seinem Taxi durch die winterliche Stadt fährt. Schneeberge, schmutzig grau. Ein Fahrgast steigt zu. Das Gesicht ist verborgen, er spricht nicht, antwortet nicht auf Fragen. Der Taxifahrer erzählt dem stummen Fahrgast seine Sicht der Welt, sein ganzes Leben, seine Gedanken. Er ist nicht angewiesen auf eine Antwort des Fahrgastes. Wundervoll tiefsinnig, lapidar, realistisch nüchtern, entillusioniert, lebenstüchtig, charmant, tapfer. Ein Mensch der nicht aufgibt. Klarsichtig, analytisch. Ein Vorbild an Lebensmut.

Der Film Euphoria, die Musik, die Menschen, so unterschiedlich und doch alle gleich. Eine tiefe Verbundenheit. Den Lebenskampf annehmen. Offen und gelassen.

Auch die anderen Filme sind absolut sehenswert, wenn auch für mich nicht so stärkend, aufbauend.

Also, auf in die Völklinger Hütte! Es lohnt sich.

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Kommentare: 1
  • #1

    Anette Ziegler (Freitag, 04 August 2023 13:44)

    Liebe Evi! Du hast das wunderbar beschrieben! Mich hat unser Besuch in der Völklinger Hütte auch total begeistert und beeindruckt! Hatte bei dem Euphoria Film fast die ganze Zeit Gänsehaut! Bin sehr sehr froh dass wir zusammen dort waren! Viele liebe Grüße von deiner Anette