Der Besuch auf der documenta fifteen hat mich so inspiriert, ein Lebendigkeitsgefühl hervorgerufen, das mich regelrecht verjüngt hat. D.h.natürlich nur gefühlt. Ich fühlte mich jünger. Ich nenne diesen Zustand documenta modus.
Was verstehe ich unter documenta modus?
Also ich übe schon länger an diesem Modus. Es ist ein anderer Bewusstseinszustand in den ich mich bewusst versetzen kann. Es ist ein Bewusstseinszustand der mehr auf offene Wahrnehmung der Umgebung und der Mitmenschen gerichtet ist. Und zwar Wahrnehmung im wahrsten Sinne des Wortes. Also eine Wahrnehmung ohne Bewertung, Kategorisierung, ohne direkte innere Reaktion darauf. Einfach nur da sein und schauen, was da ist.
Diesen Modus habe ich mir schon vor ein paar Jahren von einer Freundin und Künstlerin abgeschaut. Es hat bestimmt mit einem künstlerischen Blick auf die Welt zu tun. Offenheit, Neugier und Interesse. Wer und was ist da noch neben mir? Wie sieht das aus? Was sagt es mir? Was spricht es zu mir?
Dieser Modus hilft, die Welt konstruktiver zu sehen und nach Lösungen zu suchen, nicht nach Schuld und Bewertung. Und dieser andere Blick auf die Welt, diese andere Wahrnehmung habe ich sehr stark auf der diesjährigen Documenta wiedergefunden. Der Blick auf das Verbindende zwischen den Menschen, nicht das Trennende.
Die documenta fifteen ist nicht ausgerichtet auf die Präsentation von fertigen, statischen Kunstwerken (obwohl diese auch zu sehen sind). Die Künstler*innen und ihre Kollektive sind aufgefordert die Prozesse zu zeigen, wie ihre Kunst entsteht.
Viele neue Begriffe habe ich gelernt. Zentral ist das Wort "Lumbung". Lumbung ist das indonesische Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reis-Scheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Dabei ist lumbung nicht zu verstehen als Konzept, sondern als Praxis.
Ekosistem, ebenfalls ein indonesisches Wort und nicht zu verwechseln mit Ökosystem, weil es mehr bedeutet. Ekosistem beschreibt kollaborative Netzwerkstrukturen, durch die Wissen, Ideen, Programme und andere Mittel geteilt werden. Es bedeutet Erarbeiten von neuen Nachhaltigkeitsmodellen und den Aufbau langfristiger zwischenmenschlicher Beziehungen.
Die Ausstellung dieses Jahr ist nicht statisch. Viele Beiträge der lumbung member und lumbung Künster*innen entwickeln und verändern sich während der Ausstellungslaufzeit.
Die lumbung Künstler*innen organisieren sich in Gruppen, den majelis. Majelis ist ebenso ein indonesisches Wort und bedeutet Versammlung. In den majelis wird unter anderem die Ressourcenverteilung besprochen.
Die majelis sind zusammengesetzt nach den verschiedenen Zeitzonen aus denen die Künstler*innen und ihre Kollektive kommen.
Die Treffen der majelis Gruppen werden begleitet und dokumentiert von Harvestern. Harvester kommt von harvest, Ernte. Die Harvester hören zu und dokumentieren die Treffen, die majelis, aus ihrer eigenen Perspektive mittels individueller künstlerischer Praktiken. Dabei entstehen Zeichnungen, Skizzen, Übersichten und Texte, die auch wiederum in der Ausstellung zu sehen sind.
Die Künstler*innen Kollektive. Eine besondere Auswahl. Und auch hier eine neue Begriffswelt. Z. B. Kunstwerke, auch in ihrem Entstehungsprozess dargestellt von sogenannten "neurosensiblen" Menschen. Dieses Wort neurosensibel statt psychisch krank oder behindert gefällt mir besonders gut. Und was wir da an Kunst zu sehen bekommen ist wirklich beeindruckend.
Die documenta fifteen läuft noch bis 25. September. Es gibt also noch Gelegenheit in den Jungbrunnen nach Kassel zu fahren und dort einzutauchen in Kunstprojekte aus der ganzen Welt.
Und ich übe weiter an meinem documenta modus.
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Georg Frieß (Mittwoch, 21 September 2022 10:31)
Vielen Dank für den Beitrag zur documenta. Wir waren im Juni zwei Tage dort und sind immer noch bewegt . Seit der 4. documenta waren wir jedes Mal in Kassel. So eine gründlich neue Sichtweise auf Kunst und unser Gesellschaftssystem erlebten wir dort bislang nicht.