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Geschichten vom Jakobsweg

Als ich Enrique das erste Mal sah und seinen Namen und seine Geschichte noch nicht kannte, dachte ich er ist Schauspieler und es wird gerade ein Film über das Mittelalter und die Pilgerschaft auf dem Jakobsweg gedreht. Seine Erscheinung und die Aura um ihn herum, legte diese Interpretation nahe. Enrique war gekleidet mit einer langen braunen Kutte, die mit einem einfachen Seil zusammengehalten wurde. Er hatte lange weiße Haare und einen dicken Bart. Auf dem Kopf trug er einen großen Filzschlapphut mit einer Jakobsmuschel. An den Füßen trug er einfache Sandalen ohne Strümpfe. Als Trinkgefäß hatte er eine Kalabasse dabei, die er ebenso wie sein Bündel mit Habseligkeiten mit einem Strick über der Schulter trug. Ein langer dicker Pilgerstab ergänzte seine klassische Pilgerausstattung. 

Enrique war auf dem ganzen Jakobsweg bekannt und genoss bei den Anwohnern am Weg, in den Herbergen und bei der Pilgerschaft ehrfürchtiges Ansehen. Ramon erzählte uns seine Geschichte und den Grund für sein Pilgern.

Enrique war an Kehlkopfkrebs erkrankt und legte damals ein Gelübde ab: Wenn er die Krankheit überleben und geheilt würde, so würde er aus Dankbarkeit auf dem Camino pilgern und sich bei dem Heiligen in Santiago bedanken. Und so geschah es. Er war inzwischen den Jakobsweg viele Male gegangen. 

In den Herbergen und bei den Anwohnern am Weg genoss Enrique große Verehrung und Sonderrechte. Er bekam stets ein eigenes Zimmer und durfte sogar tagsüber in den Herbergen schlafen und ausruhen, wenn er wegen der großen Hitze am Tag in der Nacht wanderte. 

Wenn ich ihn gehen sah, von weitem, war ich immer wieder beeindruckt. Der Gang war sehr bedächtig, gleichmäßig, stetig. Er ging meist alleine und sprach nicht viel. Die wenigen Worte die ich von ihm hörte, waren mit einer schnarrenden Stimme gesprochen, die wohl von der Kehlkopf Operation herrührte. 

Einige Male hatte ich den Impuls mir seinen Segen geben zu lassen. Ich altes Heidenkind. Traute mich jedoch nicht, weil Enrique so eine Aura um sich hatte, die ihn ganz vom Trubel und der Geschäftigkeit des Camino abschirmte. Er war ganz für sich und doch in der großen Pilgergemeinschaft. 

Da fällt mir die Strophe des wunderbaren Gedichtes von Nazim Hikmet, das Hannes Wader vertont hat, ein:

"Leben wie ein Baum, einzeln und frei, und geschwisterlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht."

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Friess (Freitag, 30 April 2021 17:29)

    Schönes Motto