Seit frühester Jugend hat mich das Thema "Schuld" im Zusammenhang mit der deutschen Nazivergangenheit, der Nazivergangenheit der Deutschen, beschäftigt. Auf Reisen in die Niederlande, nach Frankreich, Polen und vor allem Israel wurde ich konfrontiert mit dieser Schuld. Ich empfand sie wie eine Art Erbsünde, der ich nicht entrinnen kann. Sie würde immer da sein, sie würde nie vergehen, ein Schatten, eine immer währende Schuld Last. Ich konnte mich deshalb nie mit der sogenannten "ruhmvollen" deutschen Geschichte, mit dem Volk der "Denker" und "Dichter", mit den Errungenschaften der Deutschen identifizieren. Über allem lag dieser dunkle Schleier der Schuld, diese Last der Nazi Zeit, die soviel Leid über die Menschen gebracht hat.
Eine Brücke zu einer anderen Sicht , einem anderen Zugang zu dieser "Erbsünde" lernte ich dann durch die Antifaschisten kennen, die Widerstandskämpfer im Großen und im Kleinen, die Überlebenden des Naziterrors, die ich kennenlernen durfte und durch die ich politisiert wurde. Ich lernte Menschen kennen, die über diese Zeit berichteten, ohne mir im Geringsten Schuld zu zu schreiben. Ich lernte Menschen kennen, mit denen ich mich identifizieren konnte, die mich mit meinem Deutschsein ein bisschen versöhnten. Sie waren ja auch zum Teil Deutsche. Deutsche Juden, deutsche Sinti, deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Christen.
Besonders und nachhaltig beeindruckte mich ein Mann namens Ottokar. Er war unser Reiseleiter auf einer antifaschistischen Bildungsreise nach Prag. Ottokar war selbst Opfer und Verfolgter des Naziregimes. Er zeigte uns all die Gedenkstätten mit solch einer offenen Warmherzigkeit uns gegenüber, völlig ohne Schuldzuweisung an uns als Deutsche. Ottokar war im übrigen ebenfalls Deutscher, der nach der Befreiung in Prag geblieben war. Ottokar war so lebendig, so ohne jegliche Verbitterung, so voller munterer Warmherzigkeit, dass er dadurch einen anderen Zugang zu den schrecklichen Taten ermöglichte. Einen Zugang ohne persönliche Schuld. Er zeigte uns einfach was war. Ohne irgendeine Schuldzuweisung für uns (junge) Deutsche.
Dieses einfach nur zeigen was war, bewirkte bei mir und ich glaube bei der ganzen Gruppe, einen Zugang zur Trauer zu finden. Die Traurigkeit über das ganze Leid welches die Nazis über die Menschheit gebracht haben, zuzulassen, zu empfinden. Speziell in der Gedenkstätte Theresienstadt empfand ich diese Trauer. Über die vielen Kinder, die dort starben. So viele Kinder! Ich heulte viel in diesen Tagen und dieses Weinen brachte viel in Bewegung in mir. Auch die Trauer über den Sündenfall meiner Vorfahren. Auch die Erkenntnis das jegliche Verdrängung, sich dieser Trauer nicht stellen, dazu führen kann, dass solche Untaten, Verbrechen sich wiederholen.
Auf dieser Reise wurde sehr viel geweint, aber auch gelacht. Keiner blieb unberührt. Das ermöglichte uns Ottokar.
Verdrängung, Relativierung, Leugnung, all das führt zu neuem Hass. Auf Menschen, die als nicht zugehörig identifiziert werden, als nicht deutsch, als Bürger 2. Klasse. Auch verdrängte, unbewusste Schuldgefühle verhindern einen menschlich emotionalen Zugang zu unserer Vergangenheit. Die Autorin Alexandra Senfft hat ein Buch darüber geschrieben: "Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte. Sie schildert darin die emotionalen Folgen von NS Täterschaft bei den Nachkommen.
Die bildende Künstlerin Moshtari Hilal und der Schriftsteller Sinthujan Varatharajah haben auf provokante Weise nun wieder mal die Debatte zu diesem Thema befeuert. In einem Instagram Talk sprachen sie zwei Stunden über "Nazi-Erbe- Kapital und Rassismus bei Menschen mit Nazihintergrund". Sie machten darin aufmerksam auf NS Kontinuitäten sowohl in den materiellen Nachlässen der NS Generation, als auch auf die Weitergabe von Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern über Generationen hinweg. Besonders die Bezeichnung "Menschen mit Nazihintergrund" hat wohl zu einem Sturm von falschen Anschuldigungen und Angriffen auf die beiden Künstler mit Migrationshintergrund geführt, so dass diese ihr Video zeitweilig aus dem Netz entfernen mussten. Es hat aber auch dazu geführt, dass sich auf Twitter rasch die Gruppe #meinNazihintergrund bildete. Dann hat sich das doch schon gelohnt.
Kommentar schreiben
Friess (Donnerstag, 01 April 2021 17:17)
Ja, wenn man als Arier in Deutschland 1944 geboren ist, hatte man immer eine äußerlich fast angenehme Lebensumgebung. Distanzierung musste sein. Kriegsdienstverweigerung, Kirchenaustritt, SDS u.a. Wenn da nicht jeden Morgen das Klossgefühl wäre, zu etwas Schrecklichem zu gehören, wäre es noch wunderbarer.