· 

Merkwürdiges Phänomen

Vor vielen Jahren war ich mit einer Gruppe zum Bergwandern am Königssee. Schon am ersten Tag stand eine Wanderung auf dem Plan, die mindestens an einer Stelle eine Herausforderung bot: Eine Leiter mehrere Meter nach unten auf einen kleinen Felsvorsprung. Das war angesagt, aber als ich das dann sah, rutschte mir doch das Herz in die Hose und mein Puls ging heftig. Eine Mitwanderin war aber viel geschockter, schaute hinunter auf die Leiter abwärts und jammerte laut: Oh je, oh je, oh je! Da soll ich hinunter. Das schaffe ich nicht. Oh je, oh je, oh je. Die beiden Bergführer kümmerten sich um die Frau, erklärten ihr ausführlich, was sie zu tun hätte, dass es überhaupt nicht schlimm sei, dass sie einfach nicht hinunter schauen sollte, sondern nur auf die Leiter usw. Aber es dauerte noch eine Weile bis unsere Mitwanderin sich überzeugen und beruhigen ließ und brav die Leiter hinunter stieg und unten auf dem kleinen Felsvorsprung auf uns wartete bis wir auch alle unten waren. In der Zeit, als die Frau jammerte und klagte und die Wanderführer sie bearbeiteten und beruhigten, verlor ich meine Angst fast vollkommen und ich stieg die Leiter hinunter, wie zu Hause vielleicht auch von einem Apfelbaum. Die Angst der Frau hat bewirkt, dass meine Angst kleiner wurde!? 

Ein weiteres Beispiel für dieses Phänomen: Ich musste einen Hausbesuch (beruflich) bei einer Familie machen, die 2 riesige Hunde hatte. Ich habe große Hundeangst seitdem ich als Kind von einem Schäferhund gebissen und verletzt wurde und diese Angst ist eigentlich nicht zu steuern. Beim Hausbesuch war meine Jahrespraktikantin dabei. Als wir gerade Platz genommen hatten und das Gespräch beginnen wollten, kamen die 2 Hunde zu uns, schnüffelten an uns und der eine legte sich dann zu unseren Füßen unter den Küchentisch. Ich hatte große Angst, merkte dann aber, dass die Jahrespraktikantin regelrecht erstarrt war vor Angst. Sie konnte sich gar nicht mehr bewegen und auch nicht an dem Gespräch teilnehmen. Und in dem Maße, wie ich die Angst spürte von ihr, ließ meine nach. Ich musste das Gespräch alleine führen und die Hunde gerieten ein Stück in den Hintergrund und die Angst auch. Ich musste meine Angst bewältigen und mich auf das Gespräch konzentrieren. Ich konnte nicht in der Angststarre verweilen. Ich musste als Anleiterin aktiv werden. Und das klappte. Meine Angst war kleiner geworden, durch die übergroße Angst meiner Kollegin. 

Das ist doch wirklich merkwürdig. Dieses Phänomen ist mir eingefallen, als der unsichere Kunde im Unverpackt Laden war und er mich durch seine Anwesenheit und seine Unsicherheit, selbstsicherer gemacht hat und selbstverständlicher und cooler. So hab ich mich jedenfalls gefühlt.  Also dieses Phänomen funktioniert offensichtlich nicht nur mit Angst, sondern auch bei anderen Gefühlen, Zuständen. 

Kennt Ihr auch solchen Situationen?

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Friess (Sonntag, 13 Dezember 2020 10:27)

    Das mütterliche Gefühl für andere vertreibt die eigenen Ängste. Allgemeiner
    psychischer Mechanismus in allen Hilfsberufen.

  • #2

    Marilena (Montag, 01 März 2021 19:43)

    Sehr interessant, grade heute haben wir im Psychologieunterricht über genau solche Phänomene gesprochen... ich hab ja auch oft Angst und kann mich in unrealistische Sorgen "reinsteigern", gibt es jedoch einige andere Personen, die noch mehr Angst zu haben scheinen, werde ich dann oftmals doch zur beruhigenden Person... irgendwie habe ich das Gefühl die Situation dann von außen, mehr analytisch, betrachten zu können, was sie schrumpfen lässt.