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Schutzengel

Ich war mit dem Fahrrad auf dem Weg zur S-Bahnstation, um nach Frankfurt zur Arbeit zu fahren. Meine Straße ist eine Vorfahrtsstraße mit einigen Zuflüssen von rechts. Als ich gerade an einer dieser Zufahrten von rechts vorbei fuhr, passierte es. Ein kleines rundes Auto, ich glaube es war ein Fiat, näherte sich der spitzen Zufahrt auf meine Vorfahrtsstraße von rechts, verlangsamte die Geschwindigkeit, um, wenn nichts von links käme, in meine Fahrtrichtung einzubiegen. Ich radelte einfach weiter, weil ich davon ausging, das Auto werde vollends anhalten und erst, wenn ich vorbeigefahren wäre, wieder anfahren. Es hielt aber nicht an. Es fädelte sich in meine Fahrspur ein und beschleunigte langsam wieder, beschleunigte, bis ich schon das Gefühl hatte, es gibt Kontakt zu meinem Fahrrad und mir. Unglaublich viel ging in diesen Momenten in meinem Kopf ab. Ich hatte große Angst davor, dass ich unweigerlich von dem Auto angefahren würde und gleich vom Fahrrad stürzen würde. Ich hatte schon 2 mal die Erfahrung gemacht, wie es sich anfühlt, wenn hartes Blech auf weichen Körper trifft. Ich hatte schon erlebt, wie ausgeliefert man ist, wenn man von einem Auto umgefahren wird, wenn man da liegt und nicht weiß, was gebrochen, geprellt oder aufgeschürft ist. Die Chancenlosigkeit eines Radfahrers oder Fußgängers gegenüber Autos. Der Aufprall, der Schock, der Schmerz, die Angst. All das war mir in diesem Moment wieder präsent. Ich dachte noch: Oh nein! Nicht schon wieder!

Und da geschah es. Ich fühlte mich ganz sanft berührt und hochgehoben. Und befand mich, als ich wieder "erwachte", mit meinem Fahrrad auf dem gegenüberliegenden sicheren Gehweg. Die Autofahrerin mit dem kleinen runden Auto hatte angehalten, das Fenster heruntergekurbelt, schrie und gestikulierte. Sie war völlig außer sich. Sie habe mich nicht gesehen. Sie hatte mich einfach nicht gesehen. Sie hatte sich offensichtlich zu ihrem Kind auf dem Rücksitz umgedreht und hatte mich übersehen. Sie entschuldigte sich vielmals, versuchte zu erklären und war ziemlich aufgeregt. Ich dagegen war nach einem kurzen Moment des Schrecks völlig ruhig, gelassen und erleichtert und konnte meinen Weg zur S-Bahnstation fortsetzen.

Den ganzen Tag und noch einige Zeit danach, fühlte ich mich irgendwie beglückt und beschützt. Wenn auch etwas irritiert durch dieses unerklärliche Erlebnis. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich nicht vom Rad gestürzt war, was mich da so zart berührt hatte und wie ich auf den Gehweg auf der anderen Straßenseite gekommen war. Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Mir fehlte ein Stück in der Erinnerung. Und dieses Gefühl der Berührung, welches ich erst für den runden Kotflügel des kleinen Autos gehalten hatte, was aber wiederum nicht sein konnte, da ich dadurch aus dem Gleichgewicht geraten und vom Rad gestürzt wäre. Und wie sollte ich auf die andere Fahrbahnseite auf den Gehweg gekommen sein? 

Die Fiatfahrerin mit ihrem Kind tat mir leid. Sie hatte sich viele Male entschuldigt, erklärte, dass sie es ganz eilig habe, das Kind im Kindergarten abliefern  und dann zur Arbeit fahren zu müssen. Sie war total unter Druck.

Ein paar Tage später dachte ich, dass es vielleicht gar nicht mein Schutzengel, sondern ihrer gewesen sein könnte. Damit sie sich nicht unglücklich durch zusätzlichen Druck, durch Schuldgefühle und Unannehmlichkeiten fühlen sollte. 

Dann habe ich gedacht: Och nein. Wenn schon Schutzengel, dann war es meiner

Vielleicht war es auch "nur" ein glücklicher Zufall und eine Sinnestäuschung?

 

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