Um den 8. Mai herum gab es wieder jede Menge Dokumentationen, Filme und Zeitungsartikel zum Kriegsende, zur Befreiung von der Nazi Herrschaft, zum Sieg über den Nazi Terror, zur Niederlage von Nazi Deutschland, je nach politischer (Vor-) Einstellung.
Beim Zusehen oder Lesen dieser Dokumentationen, Berichte oder Verfilmungen ecke ich an manchen Stellen an, verhake mich gedanklich und emotional, steige an bestimmten Sequenzen aus dem Verlauf aus, weil ich das Gefühl habe, da stimmt irgendetwas nicht.
Es ist an den Stellen, wo die Deutschen als Opfer dargestellt werden. Und zwar ausschließlich als Opfer. Opfer der Bombardements der Alliierten, des Hungers, der Armut, der Vertreibung, der Flucht.
Durch zwei Artikel in der Wochenzeitung "Freitag" von Alexandra Senfft und Sven Rohde kam ich auf die Spur, dieses gedanklichen und emotionalen "Verhakens". Die beiden Autoren beschäftigen sich mit den Art und Weisen des Gedenkens, der Erinnerung, den Narrativen und den daraus folgenden Bewältigungsformen.
Die berühmte Rede von Richard von Weizäcker am 8. Mai 1985, in der er vom Tag der Befreiung der Deutschen vom Nazi Terror spricht und die ich bisher immer als wichtigen Schritt zu einer anderen geschichtlichen Einordnung des 8. Mai empfand, wird von A. Senfft anders bewertet. Sie sieht in dem Narrativ Weizäckers von der Befreiung der Deutschen von der Nazi Herrschaft eine Verschleierung der Tatsache, dass sie diese zu verantworten hatten. Und, dadurch geschieht die Verkehrung der Täter zu Opfern. Von Weizäcker wird außerdem vorgeworfen, dass er in seiner Rede das Gedenken an das Versprechen von Versöhnung und Erlösung koppelte. "Täter können sich indes nicht selbst die Absolution erteilen", schreibt sie, und weiter: "Es gibt auch keine Befreiung von der Vergangenheit, denn die "Tatsachenwahrheiten" (Hannah Arendt) bleiben mit ihren Wirkungen bestehen."
Diese narrativen Verzerrungen bei Richard von Weizäcker wird auch in Zusammenhang gebracht damit, dass er die Verstrickungen seines Vaters mit den Nazis verschwiegen und verdrängt hat. Durch dieses Verschweigen und Verdrängen und von sich Wegschieben, werden die NS Verbrechen "nebulösen Dritten zugeschrieben, keinesfalls den eigenen Verwandten". "Die Täter werden dabei zu abstrakten Zahlen, kognitiv erfassbar, emotional hingegen abgekoppelt von den Taten und deren Folgen über Generationen hinweg. Sie bleiben stets "die Anderen". Aber die Nazis waren nicht nur die Prominenten, es waren keine Monster oder Irre, sondern ganz gewöhnliche Menschen. Es waren unsere Verwandten."
Womit ich beim zweiten Artikel zu dem Thema angelangt bin. Der stammt nämlich von Sven Rohde, der sich als Coach beschäftigt mit den Kriegsenkeln, den Nachkommen von Nazis und ihren Leiden. Und der Weitervererbung von traumatischen Erfahrungen. Er schreibt: "Je gründlicher die Aufarbeitung der Familiengeheimnisse, je klarer das Bild der Vergangenheit, umso größer die Chance, dass wir die Weitergabe beenden".
In den 80ziger Jahren hatte ich das Glück an einem Bildungsurlaub in Prag teilzunehmen und einen beeindruckenden Menschen und Antifaschisten kennenzulernen. Ottokar, selbst Verfolgter des Naziregimes, führte unsere Gruppe an das Thema einfach dadurch, dass er uns zeigte, was war, was geschehen ist. Er führte uns nach Theresienstadt, nach Lidice, in die Folterkeller der SS in Prag, in denen er selbst inhaftiert war. Er zeigte uns was war auf seine, sehr persönliche, warmherzige Art. Munter, quicklebendig und wunderbar chaotisch. Er brachte sogar den Busfahrer dazu in die falsche Richtung in die Einbahnstraße zu fahren. Trotz der Schwere des Themas wurde viel gelacht in dieser Woche. Aber auch geweint. Ich habe nie mehr auf einem Bildungsurlaub soviel geheult. Und das war gut, denn "Erinnerungen bestehen nicht nur aus Fakten, sondern auch aus Emotionen", wie Alexandra Senfft schreibt. Und: "Es ist unsere Aufgabe, dem Entsetzen über ihre (unserer Verwandten) Taten standzuhalten."
Die beiden Autoren und die Erkenntnis, dass man zu etwas nur eine Emotion entwickeln kann, wenn man es weiß, haben mich auf die Idee gebracht, dass es doch ganz wichtig sein könnte, mal nach meinen gefallenen Onkeln und nach meinem Großvater väterlicherseits zu forschen, von denen ich so gut wie gar nichts weiß. Es gibt eine Abteilung des Bundesarchivs, Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht in Berlin. Da kann man/frau Auskunft erhalten, über die Sterbedaten (wo, wann, wie) von Gefallenen oder Lazarettaufenthalten usw. Vielleicht ist das sogar ein Anlass, zu den wenigen noch lebenden Verwandten, die mir Auskunft geben können über meine Vorfahren, Kontakt aufzunehmen?
Was denkt Ihr dazu?
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Friess (Samstag, 30 Mai 2020 19:24)
Richtig. Wir wurden 1945 nicht von den Nazis befreit. Sie blieben unter uns.